Demokraten-Logo AG Demokratia - Auf den Spuren einer antiken Staatsform

Was plant der "Alte Oligarch"?

Wohl aus den zwanziger Jahren des 5. Jh. v. (nach 430; vor 415) ist uns in den Werken Xenophons ein merkwürdiger Text zum "Staat der Athener" (Athenaíon politeía) überliefert, dessen anonymen Verfasser die Forschung meist den "Alten Oligarchen" nennt:

---

(I, 1) Was die Staatsform der Athener anlangt, kann ich es freilich nicht billigen, daß sie gerade für diese Art der Staatsform sich entschieden haben; denn hiermit haben sie sich zugleich dafür entschieden, daß es die Gemeinen besser haben als die Edlen; aus diesem Grunde kann ich das nicht billigen. Daß sie aber, nachdem sie das nun einmal dergestalt beschlossen haben, zweckmäßig ihre Staatsform sich zu wahren und alles andere sich einzurichten wissen, worin sie nach Ansicht der anderen Griechen fehlgreifen, das will ich jetzt beweisen.

(2) Zunächst muß ich es aussprechen, daß mit Recht daselbst die Armen und das Volk berechtigt sind, den Vorzug vor den Vornehmen und den Reichen zu haben, und zwar deshalb, weil nur das Volk es ist, das die Schiffe treibt und dadurch der Stadt ihre Machtstellung verschafft, und die Steuerleute, die Rudervögte, die Unterabteilungs-Kommandanten, die Vorderdeckwarte und die Schiffbauer, alle diese nur es sind, die der Stadt ihre Machtstellung verschaffen, wenigstens viel eher als das schwere Fußvolk und die Vornehmen und überhaupt die Edlen. Unter diesen Umständen erscheint es nur gerecht, daß allen bei der jetzt üblichen Losung sowohl wie der Wahl die Ämter offen stehen und daß es jedem von den Bürgern, wer da will, freisteht, öffentlich zu reden.

(3) Alle Ämter ferner, die der Gesamtheit des Volkes Segen bringen, wenn sie in guten Händen sind, und Gefahr, wenn in schlechten, die verlangt sich das Volk nicht im mindesten offenzuhalten (weder die Stellen der Marschälle noch die der Reiterobersten glauben sie sich durch den Grundsatz der Losung offenhalten zu sollen); denn sehr wohl versteht es das Volk, daß es größeren Nutzen davon hat, daß es nicht selber diese Ämter verwaltet, sondern die Vermöglichsten sie verwalten läßt. Alle Ämter aber, die dazu da sind, Sold zu tragen und Nutzen ins Haus zu bringen, um die bewirbt sich das Volk.

Zum kompletten Text - Download als PDF (88 KB)

---

Die Schrift macht drastisch deutlich, daß der Autor einer Demokratie nicht wohlgesonnen und Anhänger einer "Herrschaft der wenigen" ist ("oligarchía": politisch (voll)berechtigt sind dort nur Reiche und/oder Adelige).

Favorisiert und als "gute Ordnung" (I,8) etikettiert, wird sogar jene besonders rigorose Spielart eines nichtdemokratischen Regimes, bei der die große Menge ärmerer Leute keinerlei politisches Mitspracherecht mehr genießt und noch nicht einmal, wie bei gemäßigten Systemvarianten, gelegentlich zu Volksversammlungen einberufen wird, bei denen sie über eine Beschlußvorlage des bloß den Privilegierten zugänglichen Rates abstimmen kann, ohne sie freilich verändern zu dürfen.
Eine positive Bewertung der "Versklavung" des Volkes (I,9) findet sich ebenso wie andere signifikante Denkmuster: Die "Armen", die "Leute aus dem Volk" erscheinen als "untauglich", intellektuell und moralisch minderwertig, zu Verbrechen disponiert aus materieller Not wie fehlender Affektkontrolle, allein durch Geld zu motivieren und stets egoistisch. Die "Reichen" und "Vornehmen" hingegen werden als einsichtsvoll, gebildet, diszipliniert, wertorientiert und "brauchbar" dargestellt.
Für den Autor resultieren daraus zwangsläufig politische Haltungen - die Liebe zur "Volksmacht" im ersten, der Haß auf sie im zweiten Fall - sowie eine systemimmanente Schlechtigkeit der Demokratie, die auch durch Reformen nicht zu beheben ist. Abhilfe brächte allein ihre Abschaffung.

---

Genau hier jedoch konfrontiert der Text mit einem seltsamen Phänomen.

So werden

  • die Chancen eines Umsturzes für Athen äußerst skeptisch beurteilt. Der Prozentsatz der Unzufriedenen sei dafür zu gering und die Menge habe höchst findig Vorkehrungen zur Stabilisierung ihrer Verfassung getroffen. Mehr noch:
  • Der Autor bescheinigt der Demokratie der Stadt Legitimität, da es die Ärmeren seien, deren Leistung als Ruderer der Schiffe die außenpolitische Macht Athens begründe.
---

Damit stellt sich allerdings ganz unmittelbar das Problem:

  • Was bezweckt der "Alte Oligarch" mit seinem Text?
  • Wen möchte er damit erreichen?
---

Daß nicht die "Armen" der Adressatenkreis sein können, steht wohl außer Frage.
Aus den weiteren Überlegungen ergaben sich bislang folgende Vorschläge:

  1. Dem Autor geht es in erster Linie um Darstellung seiner Sicht der Gegenwart, nicht um politische Veränderung. Verunsicherungen oligarchisch gesinnter Kreise angesichts der unleugbaren Blüte Athens unter der Demokratie sollen dadurch beseitigt werden, daß diese Erfolge mit dem Instrumentarium oligarchischer Grundüberzeugungen erklärt werden. Die Schrift dient der Selbstvergewisserung des Verfassers und seiner Gesinnungsgenossen. Ergänzend dazu liegt möglicherweise die Absicht vor, oligarchische Zirkel Athens vor voreiligen Putschversuchen zu warnen.
  2. Als aktuelle Schwachstelle der athenischen Demokratie (II,15) wird die Möglichkeit thematisiert, "wenige" könnten die Tore für "die Feinde" öffnen, die derzeit das Land rund um die Mauern der Stadt verwüsten (gemeint ist die Situation in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges, wo die Spartaner Jahr für Jahr nach Attika einfallen). Die wirtschaftlichen Schäden, die den Reichen und Bauern dadurch erwachsen, werden letztlich dem Volk Athens zur Last gelegt.
    Soll den "wenigen" nahegebracht werden, sich international Hilfe zu suchen? Angedeutet werden außerdem Verbindungen der "Edlen Athens" zu Standesgenossen in den Städten des delisch-attischen Seebundes (1,14). Die Stimmung, die in diesen Gemeinwesen Athen gegenüber herrscht, zeichnet der Text generell als sehr negativ. Des weiteren suggeriert er, die von den Bündnern getadelten Merkmale athenischer Machtausübung seien logische Folgen einer Demokratie. Zugleich werden Oligarchien gegenüber Demokratien als vertragstreu gerühmt.
    Sollen also vielleicht Leute aus dem Seebund auf die Seite der Athener Oligarchen gezogen werden?
  3. Als innerathenische Zielgruppe kämen begüterte Bürger in Betracht, von denen viele durchaus nicht in die oligarchischen Netzwerke eingebunden waren. Im Unterschied zu der Menge würden sie im Fall eines Regimewechsels ihre politischen Rechte nicht verlieren. Von den Attacken auf die "minderwertigen" Armen sind sie nicht erfaßt. Auch von dem scharfen Angriff auf die Lumpen, die, ohne sozial vom Volk zu gehören, das Leben in einer Demokratie dem in einer Oligarchie vorziehen, braucht sich kaum jemand persönlich betroffen zu fühlen. Diesem Personenkreis bietet der Autor die Rolle der von der Demokratie Geschädigten (materialle Ausbeutung; notwendiger Verzicht auf die Zurschaustellung ihres höheren Wertes) an und mag sich davon erhoffen, daß sie ihre neutrale bis demokratiefreundliche Position überdenken.
---

Antworten? Ideen? Vorschläge? Wir freuen uns über jede Email!